Alles gut (?)

Der Weg ins Leid


Hast funktioniert ganz wunderbar
alles geschafft, alles ging klar
hast geglaubt, getan, gefühlt, gedacht
was man von dir verlangt
wofür man dich gestreichelt hat
doch irgendwo war da noch was
was du gesucht, doch nicht gefunden hast
was dich verwirrt, was dich bedroht
was kocht in dir, dich stürzt in Not
irgendwas kommt da zu kurz
deshalb droht Systemabsturz
weil die Programme, die dich lenken
bald dein wahres Ich versenken
drum deine Seele immer wieder
dich so quält mit ihrem Fieber
bis du dir selbst vertraust
dich selbst befreist von deiner Last
mit deinem Mut und deiner Kraft
dein Leidprogramm erkannt
und aus dir rausgeworfen hast.
Wie Freude und Glück gehört auch Leid zum Leben jedes Menschen. Das ist unvermeidbar. Die Frage ist, ob wir daran zugrunde gehen oder daran wachsen. Wir können unser Leid nicht wegzaubern, aber wir können lernen, konstruktiv damit umzugehen. Damit wir uns mit unserem individuell erlebten Leid aussöhnen können, werden wir zunächst die Wege ins Leid beleuchten. Das ist notwendig und sinnvoll, weil der Weg ins Leid gleichzeitig den Ausweg in sich birgt. Betrachten wir also zuerst die Realitäten des Alltags:

Im Moment der Geburt beginnt das Leid: Der Säugling schreit. Wir alle leiden an irgend etwas, und sei es auf den ersten Blick noch so belanglos. Schau´ dich einfach um - bei deinen Kollegen, bei deinen Bekannten, bei deinen Freunden, in deiner Familie. Und betrachte dich selbst. Schau´ in die Gesichter der Menschen auf der Straße, in der Bahn, im Fernsehen - überall zeigen sich Spuren von Leid. Heute mehr denn je und ganz besonders in unserer auf Erfolg getrimmten Leistungsgesellschaft finden die Menschen auf natürlichem Weg immer seltener innere Ruhe und inneren Frieden.

Der rasend schnelle "Fortschritt" unserer zivilisierten Welt verläuft offensichtlich im Gleichschritt mit der Zunahme zweifelhafter "Werte" wie Macht, materieller Erfolg, Körperkult und Jugendwahn. Sinngebende Werte wie Liebe, Mitgefühl, Wissen und Weisheit dagegen werden von Menschen, die in erster Linie nach Macht und Erfolg streben, zunehmend belächelt und oft sogar mit einer seltsam herablassenden Art von Mitleid bedacht. Durch diese verhängnisvolle Orientierung entwickeln sich die auf Leistung und materiellen Erfolg ausgerichteten Gesellschaftssysteme in nahezu allen Bereichen zu neurotischen, narzisstischen, psychisch und physisch zerstörerischen Ich-Gesellschaften.

Egoist zu sein "lohnt" sich wie selten zuvor, es wird beklatscht, bejubelt und quer durch alle Massenmedien gefeiert. Aggressiv zu sein ist heute eine erstrebenswerte "Qualität", das lernen unsere Kinder schon im Kindergarten und in der Schule. Gewalt und Druck von allen Seiten sind alltägliche Begleiter von frühester Kindheit an. Immer mehr Kinder werden durch die Vermittlung destruktiver Werte sowie durch physische und psychische Gewalt seelisch verletzt, bevor sie überhaupt Gelegenheit zur freien Entfaltung haben. Das setzt sich dann fort in der Jugend und erst recht später im Erwachsenenleben. In fast allen Lebensbereichen werden heutzutage vorrangig Durchsetzungskraft, Erfolgsdenken und Leistungsorientierung verlangt und belohnt, und das nicht nur im beruflichen, sondern auch im privaten Umfeld. Damit wird das Leben von Anfang an zum permanenten Kampf erklärt. Was sich dann in diesem immer gnadenloser geführten Kampf um Macht und Erfolg durchsetzt, ist das starke Ego

Begriffe wie Gewinner, Looser, Weichei, tough und cool beschreiben die aktuelle Situation: Das Ego ist der Kult von heute. Und der Tanz um dieses goldene Kalb wird immer schneller und hemmungsloser. Destruktive Verhaltensweisen wie Aggressivität, Ignoranz, Gier und Skrupellosigkeit finden in unserer Leistungsgesellschaft zunehmend Akzeptanz und werden oft sogar bewundert. Diese Entwicklung wird durch die Massenmedien massiv angeheizt, was man am Inhalt diverser Fernsehprogramme und Zeitschriften mühelos erkennen kann. Überall werden Gewinner als Vorbilder aufgebaut und präsentiert. Schon der Zweite wird häufig als Verlierer ins Abseits gestellt. Heute zählt fast überall nur noch der Erfolg, und zwar um jeden Preis. Immer mehr Menschen glauben auch daran und leben diese Werte, weil sie ihnen tagtäglich durch Idole vorgeführt und gebetsmühlenartig von den überall präsenten Meinungsmachern eingetrichtert werden.

"Du brauchst einfach den richtigen Biss. Auf dem Platz musst du mit allen Mitteln kämpfen, da ist die Aggressivität entscheidend, da muss der Rasen brennen. Ich will immer gewinnen. Ich bin eben extrem ehrgeizig. Ich wollte schon immer der Beste sein."

Das sind die Worte eines Spitzensportlers, der als Idol gefeiert wird. Bei seinem Arbeitgeber, den Medien, seinen Kollegen und bei seinen Fans genießt der Mann höchstes Ansehen und großen Respekt. Er ist der Prototyp eines lupenreinen "Gewinners". Auf den ersten Blick scheint er ein Mensch zu sein, der auf der Sonnenseite des Lebens steht. Doch ist das wirklich so? Offensichtlich nicht, denn sehr oft ist sein Gesichtsausdruck alles andere als entspannt und zufrieden. Ist da womöglich etwas schief gelaufen?

Die Entwicklungen und Zustände in unserer heutigen Welt setzen uns Menschen zunehmend unter Druck. Dieser ständig steigende Druck erzeugt inneren Widerstand. Aus diesem inneren Widerstand entstehen Aggressionen, die sich entweder nach außen entladen oder, falls das aus unterschiedlichen Gründen nicht möglich ist, nach innen richten. In letzter Konsequenz führt der innere Widerstand zu irgendeiner Form von Selbstzerstörung, denn er stärkt das Ego. Das gilt sowohl für die erfolgreichen Überflieger wie auch für die ständig steigende Zahl der Verlierer unseres "Gesellschafts-Spiels".

Viele Menschen spüren, dass irgendwas nicht stimmt. Sie empfinden ein unklares Gefühl innerer Unruhe. Was sich da leise bemerkbar macht, ist das verkümmerte Selbst. Doch das Ego kennt keine Gnade. Das Ego will immer weiter wachsen und arbeitet mit ganzer Kraft daran, das Selbst zu unterdrücken. Als Folge davon entsteht ein permanenter innerer Kampf. Einerseits will der Mensch seine verdrängten positiven Gefühle spüren, andererseits will er seine quälenden negativen Gefühle vergessen. Das Ego reagiert darauf mit Ablenkung und Betäubung. Das kann sogar eine Zeit lang funktionieren, doch irgendwann zahlen die Betroffenen für diesen Weg einen hohen Preis. Auf der Rechnung, die das Leben jedem Menschen vorlegt, steht dann nur ein Wort: LEID.

Leid wird immer im Ego erlebt. Leid äußert sich in Traurigkeit, Unzufriedenheit, Anspannung, Verzweiflung, Angst, Schmerz, Wut und einer Vielzahl anderer quälender Gefühle. Die Leid verursachenden Gefühle sind fast immer die Folge seelischer oder körperlicher Verletzung. Diese Verletzungen entstehen sowohl durch selbstzerstörendes Denken und Handeln als auch durch Außeneinflüsse wie Krankheit oder Gewalteinwirkung. Um belastende Gefühle ertragen zu können, entwickeln sich im Ego entsprechende Denkmuster und Verhaltensweisen. Oft werden dann die belastenden Gefühle nicht mehr verarbeitet, sondern zumeist durch den Konsum diverser Außenreize kompensiert, verdrängt oder betäubt. So verläuft der direkte Weg ins Leid, der Belastungen verstärkt und zu Abhängigkeit und Selbstzerstörung führt.

Jeder Mensch erlebt Leid. Man kann an seinem Leid zerbrechen oder es durchleben und sich damit von seiner Herrschaft über das Selbstgefühl befreien. Für einen sinnvollen Umgang mit Leid braucht es innere Stärke. Innere Stärke entsteht im Selbst. Wird jedoch das Selbst durch das Ego blockiert, ist auch die innere Stärke blockiert. Nur wenn das Selbst frei ist, kann sich die naturgegebene innere Stärke frei entfalten.

Ein zufriedenes Leben mit Leid ist möglich, wenn das Ego abgebaut und dadurch der Kontakt mit dem eigenen Selbst erleichtert wird. Dann kann sich der Mensch wieder mit seinem Selbst identifizieren statt mit seinen (dem Ego entspringenden) Gefühlen und Gedanken, und nur dann wird ein konstruktiver Umgang mit den Leid auslösenden Gefühlen gelingen. Durch das Annehmen, Durchleben und Loslassen der Leid verursachenden Gefühle und Gedanken kann sich jeder Mensch von seinen belastenden (in seinem Ego erzeugten und gefühlten) Gedanken und Gefühlen befreien.
  zurück zu "Vorbemerkungen" weiter zu Kapitel 2