Leben ist Bewegung. Ohne Bewegung gibt es kein Leben.
Alles, was lebt, bewegt sich unentwegt. Sämtliche Bewegungen des Lebens
verlaufen unregelmäßig, sind also nicht linear. Jeder Atemzug
unterscheidet sich vom vorangehenden wie auch vom nachfolgenden. Der Rhythmus des
Herzschlags und die Fliessgeschwindigkeit von Blut sind niemals völlig gleich.
Ein Lebewesen kann sich zwar mit nahezu absoluter Präzision bewegen, niemals
jedoch absolut gleichmäßig. In jeder Bewegung des Lebens zeigt sich
Spannung und Entspannung. Alles pulsiert permanent. Endlose Bewegung
"belebt" nicht nur unsere Erde, sondern das gesamte Universum. Das Ende
von Bewegung ist Stillstand, und Stillstand ist gleichbedeutend mit Tod.
Im Moment dieser Vorstellung
bewegt! ein überaus faszinierendes
Bild mein Hirn: Stell dir vor, du würdest unsere Erde als Ganzes betrachten,
etwa so, wie ein Astronaut sie sehen kann, zugleich aber so stark vergrößert, dass
du sie in allen Details erkennen kannst. Ist das nicht überwältigend, wie sich
dort unten alles bewegt, wie alles zusammenhängt, wie das Eine auf das Andere wirkt,
wie Wind die Wolken bewegt, wie Wellen im Ozean entstehen, wie Eisberge schmelzen
und Gebirge zerbröckeln, wie ein Küken schlüpft, wie Vögel fliegen und Fische
schwimmen, wie sich Lebewesen vereinigen und wieder trennen, wie sich Gedanken bewegen, wie pausenlos
Altes vergeht und daraus immerfort Neues entsteht? In diesem Moment kannst du klar
erkennen, in welchem Ausmaß Bewegung unser Leben bestimmt.
Was bedeutet das nun für uns Menschen?
Bewegung als Grundlage des Lebens hat eine gravierende Wirkung auf unser Sein.
In Bezug auf unser Selbstgefühl geht es hier in erster Linie um
Greifen,
Festhalten,
Anhaften und
Loslassen. Daraus entstehen Unruhe und Ruhe, Leid und
Leichtigkeit, Gefangenschaft und Befreiung. Werfen wir also zuerst einen
Blick auf die Entwicklung unserer grundlegenden Verhaltensweisen.
Anfangs hat der Mensch Hunger und Durst. Er kennt
noch kein Ich. Er lebt einfach aus seinem Selbst heraus. Seine Wahrnehmung ist
nur auf die Außenwelt gerichtet. Seine Empfindungen äußern sich als Lachen,
Weinen, Schreien. Dann lernt der Mensch, seine Umwelt zu benennen. So beginnt
seine Entdeckung der Welt. Schnell ergründet der junge Mensch die verschiedensten
Dinge und wird immer neugieriger. Und dann entdeckt der Mensch sein Ich. Damit
beginnt auch die Entstehung von Gefühlen, die ursprünglich reine Empfindungen
waren. Und je mehr Erfahrungen der junge Mensch auf seinem Lebensweg macht, je
mehr sich sein Ich mit Inhalt füllt, desto vielschichtiger entwickelt sich seine
Denkfähigkeit und das Spektrum seiner Gefühle. All das ist Bewegung.
Im Lauf unseres Lebens nehmen wir Millionen unterschiedlichster Informationen
auf. Unzählige Gefühle und Gedanken kommen und gehen, werden verarbeitet und
verdrängt, festgehalten und losgelassen. Unser Ich wird geprägt durch unsere
Anlagen und Erfahrungen. Alles, was wir fühlen, denken, empfinden, erleben und
tun, gestaltet unser individuelles Ich. Unsere Gefühle, Gedanken und Handlungen
sind immer die Folge von Ursachen. Selbst dann, wenn wir die Möglichkeit zur
Entscheidung haben, ist jede dieser scheinbar selbst bestimmten Entscheidungen
die Konsequenz von etwas, was vorher war. Wir meinen zwar, wir könnten uns
selbst lenken, doch wir reagieren nur auf die unzähligen Einflüsse, die in uns
zusammentreffen und wirken. Nicht wir selbst bewegen uns, es ist die
Bewegung der Welt, die uns unbemerkt zieht und treibt.
Doch Eltern, Schule und Gesellschaft haben uns anderes gelehrt. Von Kindheit an
bemühen wir uns, gegen die natürliche Bewegung der Welt anzukämpfen.
Schon bald wollen wir mehr als das, was uns geschenkt wird. Der Grund dafür liegt
in unserer Angst, zu kurz zu kommen. Deshalb unternehmen wir immer größere
Anstrengungen, um die Realität unseren Wünschen gemäß zu
ändern. Bei genauer Betrachtung sind diese Anstrengungen jedoch nichts anderes als
Widerstand. Damit ist nicht die Art von Anstrengung gemeint, die man aufbringt, um im
Rahmen seiner Möglichkeiten seine Fähigkeiten einzubringen, um ein realistisches
Ziel zu erreichen. Gemeint ist damit der Widerstand gegen die naturgegebenen Realitäten.
Es kann zu einer sinnlosen Lebensaufgabe werden, sich gegen eine Mauer zu stemmen. Man
kann ein Hindernis zwar auch umgehen, doch das Ego will grundsätzlich mit dem Kopf
durch die Wand. Doch je mehr wir gegen die natürlich wirkenden Kräfte auflehnen, desto
weniger gefällt uns die Welt. Und je weniger sie uns gefällt, desto unzufriedener
fühlen wir uns. Als Folge davon entstehen laufend neue Bedürfnisse, die befriedigt
werden wollen. Wir brauchen immer mehr - also
greifen wir nach immer mehr.
Greifen entsteht aus Verlangen. Wir greifen
nach allem, was wir als "gut" und nützlich empfinden. Es geht dabei
nicht so sehr um das Greifen nach einer Tomate oder einem Buch. Hier geht um geistiges
Greifen, welches zugleich auch der Ursprung materiellen Greifens ist. Im geistigen
Sinn greifen wir nach Sicherheit, Zuwendung und Anerkennung, einfach nach allem,
was zur Befriedigung emotionaler Bedürfnisse dient. Durch dieses geistige
Greifen verfestigt sich unsere Lebensenergie in vielfältige Formen. Sie manifestiert
sich in Form von Gedanken, Gefühlen, Ansichten, Hoffnungen,
Wünschen und allerhand mehr. Gesundes Greifen ist natürlich völlig
normal und keineswegs falsch. Jeder Mensch greift auf gewisse Weise nach diesem
und jenem, sonst wäre ein Überleben nicht möglich. Doch auch hier
gilt der Satz: "Die Dosis macht das Gift!" Wenn beispielsweise ein Mensch
nach der Zuwendung eines von ihm geliebten Menschen greift, sein Bedürfnis aber
nicht erfüllt wird, wird das unerträgliches Leid bei der greifenden Person
verursachen. Je krampfhafter der nach Zuwendung und Liebe greifende Mensch an
seinem unerfüllten (vielleicht sogar unerfüllbaren) Wunsch festhält,
desto schlimmer wird er leiden müssen. Greifen ist die andere Seite von Hingabe -
es ist das "ICH will". Immer, wenn wir nach etwas greifen, greifen wir damit
zugleich nach unserem Ich. Greifen und Festhalten gehen sozusagen Hand in Hand.
Das geistige Greifen und
Festhalten am eigenen Ich ist eine grundlegende
Ursache für eine Entwicklung des gesunden Ich zum krankhaften und
zerstörerischen Ego.
Festhalten ist die unabwendbare Folge vom
Greifen. Wir Menschen halten fest an unzähligen materiellen, besonders jedoch
an den geistigen Objekten unserer Begierde. Wir halten fest an Vorstellungen,
Wünschen, Hoffnungen, Wissen, Verhaltensweisen, Gewohnheiten, Denkmustern, angenehmen
und unangenehmen Gefühlen. Je nachhaltiger wir an etwas festhalten, desto
vertrauter wird es uns. Je vertrauter uns etwas ist, desto sicherer fühlen wir
uns damit. Festhalten verstärkt zwar das Gefühl der Sicherheit des Vertrauten,
gleichzeitig aber auch die Angst vor der Unsicherheit des Neuen. Die grundlegenden
Ursachen für das Festhalten an Gefühlen und Gedanken sind also einerseits das
Bedürfnis nach Sicherheit, andererseits die Angst vor dem Unbekannten. Deshalb
halten wir am hauptsächlich an den Dingen fest, die uns ein starkes Gefühl von
Sicherheit geben. Wir halten an etwas fest aus Angst, es wieder zu verlieren,
weil wir damit auch das Gefühl der Sicherheit verlieren würden, welches wir durch
unser intensives Festhalten aufgebaut haben. Deshalb ist es insbesondere die
Angst vor dem Verlust von Sicherheit, an der wir festhalten. Indem wir an unseren
Ängsten festhalten, werden wir uns irgendwann gerade mit diesen Ängsten sicher
fühlen. Die Wurzel all unseres Festhaltens ist letztlich die Angst vor der Angst.
Wenn wir etwas Bewegliches festgehalten, bedeutet
das gleichzeitig, dass Bewegung unterbrochen und gestoppt wird. Festhalten
verhindert Bewegung. Doch Bewegung ist das Wesen allen Lebens. Was auch immer
wir an Lebendigem festhalten, es will sich bewegen und wird versuchen, sich
zu befreien. Durch diesen inneren Kampf entsteht eine zunehmende Spannung und
ein immer stärkerer Druck auf das, was festgehalten wird. Entweder kann sich
das Festgehaltene befreien, weil die festhaltende Kraft erlahmt, oder es wird
irgendwann unter dem permanenten Druck zerbrechen. Doch damit nicht genug: Alles
Lebendige, was wir festhalten wollen, trägt sowieso bereits den Keim seines
Sterbens in sich. Festhalten ist also in jedem Fall sinnlos. Nichts Lebendiges
kann uns jemals für immer gehören. Wenn wir jedoch nicht greifen, kommt alles,
was wir wirklich brauchen, ganz von selbst zu uns. Wenn wir diese "Geschenke"
dann nicht festhalten, wird die natürliche Anziehungskraft wirken. Das gilt
ganz besonders für das Festhalten und
Loslassen von Gedanken, Gefühlen und
allem anderen, was lebt und sich bewegt.
Loslassen ist unentbehrlich für den Kreislauf
des Lebens und die fortwährende Wandlung der Welt. Es ist die
Voraussetzung für jede Art von Fortpflanzung und Entwicklung. Pflanzen
lassen ihre Samen los, Vögel legen ihre Eier ins Nest und Männer lassen
ihr Sperma fließen, Alles was lebt, bewegt sich, weil es zuvor losgelassen
wurde. So, wie auch eine Mutter ihr ungeborenes Kind loslassen wird und es
dadurch zur Welt bringt. Loslassen in jeder Beziehung ist natürlich und
gesund. Nur wenn wir unsere Gefühle und Gedanken zulassen, sie dann aber auch
wieder loslassen, können Geist und Seele beweglich bleiben und sich
weiterentwickeln. Wenn wir jedoch an unseren Denkmustern und Gefühlen
festhalten, wird das Ego gestärkt, unser Geist gelähmt und unsere
Seele (das Selbst) früher oder später durch das Ego erstickt.
Vielleicht wirst du jetzt fragen: "Kann
Loslassen wirklich die Lösung all meiner Probleme sein? Wäre das nicht
viel zu einfach? Wie finde ich dadurch einen Lebenspartner, wie heilt es
meine Krankheit, bringt es mir Geld oder einen Arbeitsplatz?" Nun, ganz
so einfach geht es leider nicht. Die Wirkung von Loslassen findet auf einer
anderen Ebene statt. Zur Verdeutlichung stellen wir uns einfach das
Gegenteil vor: Wenn wir an der Suche nach einer Liebesbeziehung festhalten,
wirkt das negativ auf unsere Ausstrahlung und treibt mögliche Partner
von uns weg. Wenn wir an den Gedanken festhalten, die um unser Kranksein
kreisen, werden wir immer stärker darunter leiden. Wenn wir an unserer
Jagd nach Geld festhalten, werden wir nie genug haben. Wenn wir an unseren
Gedanken an Arbeitslosigkeit festhalten, blockieren wir damit unsere
Lebensfreude. Lassen wir diese Art des Denkens los, gerät alles in Bewegung
und schon bald bestimmen ganz andere Gedanken und Gefühle unser Selbstgefühl.
Wichtig ist dabei, Loslassen nicht nur als Handlung auszuüben, sondern als
Haltung zu leben. Festhalten ist eine starre Haltung, Loslassen ist eine
bewegliche Haltung. Bewegung ist Leben.
Also einfach nur loslassen? Das sagt sich so einfach, aber wie genau geht das eigentlich?
Was genau ist zu tun, wenn die losgelassenen Gedanken und Gefühle immer wieder
zurückkommen? Die Antwort lautet:
Üben. All das ist keine Zauberei, auch hier gilt:
"Übung macht den Meister." Es ist klar, das sich die quälenden Gedanken nicht mit
einem Fingerschnippen in Nichts auflösen. Also gib nicht auf, vertraue deinem Selbst
und lenke deine Aufmerksamkeit immer wieder auf ein "Ziel" außerhalb deiner selbst.
Beobachte dich selbst in einer belastenden Situation, und du wirst sofort erkennen, in
welchen Ausmaß deine Gedanken (bis dahin
unbemerkt) immer wieder um das gleiche
Thema kreisen. Dann ändere
bewusst das Ziel deiner Aufmerksamkeit, immer wieder,
und irgendwann wird dir das Loslassen in Fleisch und Blut übergegangen und damit zur
lebendigen Haltung geworden sein. Loslassen hat übrigens mit Verdrängen nichts zu tun.
Verdrängte Gedanken und Gefühle werden lediglich unterdrückt, nicht jedoch
losgelassen. Loslassen bedeutet, dass die Gedanken und Gefühle zuerst wahrgenommen,
danach durchlebt, dann aber
nicht festgehalten, sondern wieder
losgelassen werden.
Fülle eine Kiste mit Stroh, verschließe
sie und säge ein Loch in eine Seite, so groß, dass deine Hand
durch die Öffnung passt. Dann lege vorsichtig ein bebrütetes Hühnerei in
die Kiste. Eines Morgens hörst du ein zaghaftes "Piep". Du steckst
deine Hand durch die Öffnung in die Kiste und
greifst nach dem frisch
geschlüpfte Küken. Wenn du es
festhältst, kannst du die Hand nicht mehr
durch die Öffnung ziehen, ohne dabei das Küken zu verletzen oder es
zu zerquetschen. Was würde wohl geschehen, wenn du das Küken
loslässt und mit offener
Hand vor der Kiste einfach wartest? Dann wirst du schon bald spüren, wie sich Leben bewegt
und ganz von selbst zu dir kommt.