Alles gut (?)
Bewusst fühlen
Ich höre auf, vor unangenehmen Gefühlen zu flüchten.
Wir alle kennen unangenehme Gefühle wie Schmerz, Leid oder Angst. Niemand mag
diese Art von Gefühlen, und doch muss jeder von uns auch mit unangenehmen
Gefühlen zurechtkommen. Wir können sie annehmen und verarbeiten, sie
verdrängen oder vor ihnen flüchten. Wie schon bei unserer Flucht vor unangenehmen
Gedanken fliehen wir allzu gern in einen zwar vordergründig angenehmeren, aber immer nur
kurzfristig anhaltenden angenehmeren Zustand. Besonders leicht und gern werden solche
Gefühlszustände durch den Konsum stimmungsverändernder Substanzen
oder durch das Ausüben diverser stimmungsverändernder Verhaltensweisen herbeigeführt.
Doch dadurch lösen sich die unerwünschten Gefühle nicht einfach in Luft auf.
Sie sind immer noch in uns, und dort bleiben sie auch. Durch unser Fliehen werden sie lediglich verdrängt.
Weil sie jedoch nur verdrängt werden, wird unsere Flucht auch hier zur Flucht in die Sucht.
Psychische Abhängigkeit ist fast immer die Folge einer Flucht vor unerwünschten Gefühlen.
Meditation kann genauso süchtig machen wie der Konsum von Heroin. Deshalb ist es sinnlos und
kontraproduktiv, vor unerwünschten Gefühlen zu flüchten. Überaus unerträglich
werden unangenehme Gefühle dann, wenn daraus auch noch das Gefühl entsteht, nichts
dagegen ausrichten zu können. Dieses Gefühl der Ohnmacht dem unangenehmen Gefühl gegenüber
ist häufig das Schlimmste an unserem Erleben. Ohnmachtgefühle sind jedoch sehr wertvoll, denn in
Situationen der Ohnmacht erlebt man die ungeschminkte Wahrheit. Deshalb ist es empfehlenswert, besonders die
unangenehmen Gefühle anzunehmen, sie zu durchleben, sie dann aber nicht festzuhalten,
sondern wieder loszulassen.
Ich nehme alle meine Gefühle an.
Alle Gefühle, die in mir entstehen, haben ihren Sinn. Gefühle zu
verdrängen ist ungesund, denn sie bleiben in mir existent und
entfalten ihre Wirkung unkontrollierbar im Unterbewusstsein. Alle meine Gefühle
sind ein Teil von mir. Deshalb lasse ich auch meine unangenehmen Gefühle zu.
Ich nehme sie an, indem ich sie bewusst durchlebe und dann wieder loslasse.
Ich durchlebe meine Mangelgefühle, statt ihrer Befriedigung nachzujagen.
Mangelgefühle entstehen, wenn bestimmte Bedürfnisse unbefriedigt sind.
Aus dem Bedürfnis, diese Mangelgefühle zu befriedigen, entwickeln sich
viele unserer lebensnotwendigen Antriebskräfte. Wenn es
sich dabei um natürliche Mangelgefühle handelt, die aus existenziellen
Mangelzuständen entstanden sind, ist es natürlich sinnvoll, sie zu
befriedigen. Wenn wir hungrig sind, müssen wir essen. Doch muss es unbedingt
ein Big Mac sein? Ähnlich verhält es sich mit geistigen und emotionalen
Bedürfnissen. Wir Menschen brauchen emotionale Kontakte und geistigen Austausch.
Doch wenn ich beispielsweise an einem Mangel an Erfolgserlebnissen leide, macht es nur wenig
Sinn, irrealen Vorstellungen von einer eventuellen Traumkarriere nachzujagen. Wenn die Befriedigung gewisser
Bedürfnisse einfach nicht im Rahmen meiner Möglichkeiten liegt und ich trotzdem dieser Befriedigung
nachjage, führt das nur zu umfassender Erschöpfung und langfristig zum Absterben
sämtlicher Antriebskräfte. Deshalb durchlebe ich meine Mangelgefühle ganz
bewusst, ohne jedoch dabei an die auslösenden Faktoren zu denken und lasse sie
dann wieder los. Indem ich so mit meinen Gefühlen umgehe, lassen meine Mangelgefühle
im Lauf der Zeit in ihrer Intensität nach und ich kann mich zunehmend von ihnen befreien,
statt mich von ihnen fesseln zu lassen.
Ich lasse meine Gefühle los.
Jeden Tag entstehen neue Gefühle in uns. Sie werden ausgelöst durch die
verschiedensten Lebenssituationen, die wir tagtäglich durchleben. Sobald sich diese Situationen
verändern, ändert sich auch das Gefühl. Wenn mir meine Freundin ihre
Zuwendung schenkt, entsteht in mir ein Gefühl der Freude. Wenn wir uns streiten,
wird sich dieses Gefühl der Freude im Normalfall situationsbezogen ändern.
Vor einer anstehenden Operation entsteht ein Gefühl von Angst. Ist die Operation
erfolgreich verlaufen, wird mich diese Angst in der Regel wieder verlassen.
Gefühle kommen und gehen. Wenn ich jedoch meine Gefühle
durch Festhalten künstlich verlängere, bleiben sie in mir. Dann sammeln
sich immer mehr Gefühle an und es entsteht ein Gefühlsstau. Gefühle
haben dieselben Eigenschaften wie Wasser. Sie können ruhig sein wie der unbewegte
Spiegel eines Sees. Dann können wir bis auf den Grund sehen. Sie können
Wellen schlagen wie das Meer. Ist das Meer vom Sturm aufgewühlt, ist das Wasser
trübe und wir können die Hand vor Augen nicht erkennen. Wie ein Tsunami
können Gefühle ein großes Zerstörungspotential entwickeln. Wie
Wasser können Gefühle durch Kälte gefrieren oder durch Hitze zum Kochen
gebracht werden. Wenn sich Wasser bewegt, ist es lebendig. Fließendes Wasser
reinigt sich selbst. Stehendes Wasser in einem Tümpel verfault, aufgestautes
Wasser bricht Dämme. Ein Zuviel an Gefühlen führt zur Überschwemmung.
Dann fließen Tränen. Sind die Kanäle verstopft, ertrinkt der Mensch
innerlich. Indem ich meine Gefühle ständig loslasse, können sie
ungehindert fließen. Ich lasse sie los, indem ich sie nicht festhalte. Wenn ich
sie nicht durch Festhalten künstlich verlängere, verlassen sie mich von
selbst und der Fluss meiner Gefühle strömt von ganz allein.
Ich belasse meine Gefühle im Hier und Jetzt.
Das Loslassen von Gefühlen funktioniert am besten, wenn ich im Hier und Jetzt
lebe statt in der Vergangenheit oder der Zukunft. Wenn ich geistig in der Vergangenheit
verharre, werden die vergangenen Situationen festgehalten. In solchen Situationen, die
nichts anderes sind als Illusion, kann ich mich für unbegrenzte Zeit aufhalten.
Wenn ich meine Aufmerksamkeit beispielsweise auf eine vergangene oder unglückliche
Liebe richte, wird sich automatisch das entsprechende Gefühl einstellen. Auf diese
Weise kann ich mein Leben mit dem Gefühl von Traurigkeit restlos und dauerhaft
ausfüllen, je nach dem, in welchem Ausmaß ich mich mit meiner Aufmerksamkeit
an eine entsprechende Situation binde. Dasselbe gilt natürlich auch für
positive oder negative Szenarien, die sich in der Zukunft abspielen könnten. Wenn
ich jedoch bewusst im Hier und Jetzt lebe, ändern sich zwangsläufig die erlebten
Situationen und damit auch die Gefühle ununterbrochen. So bleiben die Gefühle
in einem unaufhörlichem Fluss. Wenn ich meine Aufmerksamkeit im Hier und Jetzt
belasse, ist das Festhalten von Gefühlen nicht möglich. Das Loslassen geschieht dann
ganz von selbst.
zurück zu Kapitel 16
weiter zu Kapitel 18